Wenn Räume als Erfahrungsmotive wie Bilder gebaut werden, werden Bilder zu Vorbildern und zugleich zu deren Nachbildern
Wie Dirk Salz mit seinem Wuppertaler Raum in seine Bilder eintritt
von Prof. Raimund Stecker
Bilder bergen eigentlich immer räumliche Illusionen. Und das selbst dann, wenn sie ihre faktische Flächigkeit als genuinen Bildwert identisch mit sich selbst zu exponieren versuchen. Keine faktisch eben-monochrome Fläche wirkt auch monochrom und eben, ebenso wenig wie eine täuschend entwölbte.
Räume hingegen sind – und als solche zumindest illusionsfrei – räumlich! Sie sind räumlich im dreidimensionalen Sinne und um den Faktor Zeit erweitert sogar im vierdimensionalen, wenn nicht gar aufgrund des sehenden und suchenden, forschenden und hinterfragenden, bewusst wahrnehmenden und immer wieder überraschten Sehens faktisch polydimensional.
Räume können so auch Bilder illusionieren, ja hervorrufen, katalysieren. Räume bieten unserem Sehen erst die Schnittflächen durch unsere doppel-monookularen Sehpyramiden und so die Projektionsflächen in unseren Raumsichten.
So weit kursorisch der theoretische Hintergrund zu dem 2023 immer wieder Sehüberraschungen geboten habenden Erlebnisraum von Dirk Salz in der CAMPUSHALLE in Wuppertal. Der Bildner hochkomplexer Bildkörper (siehe vom Autor, in: Dirk Salz – Painting the Absolute)[1] hatte sein Zweidimensionalität sublimierendes Metier verlassen und war in die höchsten Niederungen talgipfelräumlicher (sic) Faktizitäten hineingestiegen, wissend, dass den Scheitelpunkt überschreitend es immer nur bergab geht bis zum nächsten Wendepunkt – und so weiter und so weiter …
Man schaute in der CAMPUSHALLE nach links und sah zeitgleich nach vorn, man fokussierte ein Hinten und blickte, ohne sich zu wenden, in die rechte Ecke, man wähnte sich vor dem Einspiegel und sah sich hinter ihn ausgespiegelt … Durchblicke wurden spiegelnd gestoppt und Spiegelbilder durch Transparenz entsiegelt. Halt und Stand wurden gleichsam verwässert und zugleich polyfokale Perspektiven zu vermeintlichen Bildrahmen eingefroren … Im Kreise drehte sich, was sehend zu fixieren sich aufdrängte, im Kreise drehte sich, wer sich dessen zu vergewissern suchte.
Das deutsche Irre in Irritation kam zum fulminanten Aufscheinen und entschwand ebenso wirkmächtig wie das aufgetauchte VerwIRREnde, an dessen Wortfinale Ende steht. Zurückgebunden in eine gesicherte Standfestigkeit wurde man nur, indem man sich mit geschlossenen Augen kognitiv seines bloßen Stehens vergewisserte. Suchte man hingegen sich laufend sehend und sehend stehend wie laufend stehend oder gar stehend laufend auf sein „sehendes Sehen“ (siehe Max Imdahl, in: Bildautonomie und Wirklichkeit)[2] zu verlassen, geriet man in die Gefahr, dass man seine physisch-psychische Orientierungssuche als psychisch-physische Versicherungshandlung verließ. Man begann zu ahnen, dass man die Welt dereinst doch nur in ein Verließ verlässt. Bis dahin aber gilt es – und sei es wie ein Hamster im Rad –, tunlichst sein Verlassensein rettend zu verlassen.
Dabei war faktisch materiell alles simpel. Man betrat die Campushalle. Als dominierende Attraktionen hingen raummittig rechteckig geschnittene blaue Folien im „guten“ Fensterformat aus dem Sheddach. Zipcodeähnlich rapportierten weiße Bildstelen an den Wänden. Sie hoben visuell die industriehallenspröden Wandflächen auf. An die Wände geschichtete Glasscheiben, breit auf den Boden und gegen die Wände hin enger zugehend gestellt, entgrenzten die Gebäudedemarkationsflächen noch evidenter. Sie spiegelten die zentral hängenden Folien und mich als sie Betrachtenden ein und dematerialisierten die Wände für unser Auge. Und vier leicht überkörpergroße Glasflächen standen raumzentral auf dem industrieestrichrauen Boden. Ruhrgebietsübliche Ausstellungsästhetik im bergischen Wuppertal!
Jedoch – dem Ganzen wohnte ein nicht enden wollender Zauber inne. Schon die kristallin facettierten Bodenabschattungen der Folien in Blau erwirkten einen magischen Bodenentzug. Die sich sowohl in Helligkeit wie auch in Dunkelheit potenzierenden bodenparallelen Sichten steigerten diesen Sicherheitsverlust noch um ein Weiteres. Und auch die Tatsache – Tat-Sache! –, dass die weißen Bildstelen an den Wänden Halt bieten würden, erwies sich sehend halt als nur zu erdenkender Trug. Denn ihre ungleichen Breiten wurden in ihren faktischen Ungleichbreiten visuell so konterkariert, wie die zentral positionierten Glasflächen als skulpturaler Körper zwar eine räumliche Mitte behaupteten, diese allerdings visuell karussellhaft aktiviert camouflierten. Labyrinth, Geisterbahn, Spiegelkabinett …
Dirk Salz schritt mit seinem „Wuppertaler Raum“ drei Schritte weit voraus, um nach weiteren Schritten hinter sich selbst (wieder) anzukommen. Er unternahm ein Experiment, das unvorhersehbar vorhersehbar aufging. Er schuf einen Raum wie Motive für seine „nur“ imaginierbar zu begehenden Bilder. Er drehte auf diese Weise um, was seit der monookular sehpyramidal normativ gewordenen Sichtweise Usus ist. Wir haben uns daran gewöhnt, im Auge von Künstlern auf deren Sozius mitzusehen, also die ganze Welt strahlengebündelt in unserem Wahrnehmungsorgan konzentriert sammelnd abzubilden. Dirk Salz stellte uns in Wuppertal in diese Welt – in die, die es erst noch zu sehen, wahrzunehmen und nicht „nur“ als bildlich Gesehenes wiederzusehen gilt. Sein „Raum“ in der Wuppertaler CAMPUSHALLE mutierte so zu einer nur an unser individuelles Erfahren überantworteten Realisierung seiner Bildmotivik. Und in der Umkehrung: Seinen bisher reinen, abbildbefreiten Bildern ist so gesehen seither auch ein Vorbildliches eingebildet, zu dem sich sein Wuppertaler Raum als imaginiertes Abbild verhält.
[1] Raimund Stecker, Auf der Suche nach dem gelben Mauerstück – Zu den Bildern ohne Gewissheiten von Dirk Salz, dt./engl., in: Dirk Salz, Painting The Absolute, Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin, 2017, S. 53 ff.
[2] Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso / Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Bildautonomie und Wirklichkeit – Zur theoretischen Begründung moderner Malerei, Mittenwald, Mäander-Kunstverlag, 1981, S. 9 ff.