Zwischen den Dingen. Reflexionen angesichts der Malerei von Dirk Salz – Dr. Martin Hellmold

Zwischen den Dingen. Reflexionen angesichts der Malerei von Dirk Salz

von Dr. Martin Hellmold

            „Der Maler ›bringt seinen Leib ein‹, sagt Valery. Und in der Tat kann man sich nicht         vorstellen, wie ein Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht,      verwandelt er die Welt in Malerei.“[1] (Merleau-Ponty)

Wer den Werken von Dirk Salz gegenübertritt, der kann sich der Begegnung mit dem eigenen Sehen nicht entziehen. Malerei von Dirk Salz wahrzunehmen, bedeutet, sich suchend, intuitiv vor dieser zu bewegen, im eigenen Tempo, mit offenem, tätigem Geist, der sich von der eigenartigen Balance zwischen Leere und Fülle, von faktischer Materialität und visueller Erscheinung, die ihm da entgegentritt, ein Bild zu machen versucht. Die Wahrnehmung dieser Arbeiten ist abhängig von dem Raum, in dem sie gehängt sind, von der Höhe ihrer Positionierung und ganz besonders vom Licht, das sich in diesem Umgebungsraum ausbreitet. Die Lichtverhältnisse haben nicht nur entscheidenden Einfluss auf die Farbigkeit und Leuchtkraft, die von den Werken ausgeht, und damit auf die Intensität und die Abstufungen der monochromen Formelemente, die sich im Binnenraum der Bilder abzeichnen, sondern auch auf die Reflexionen auf deren Oberflächen, mit denen wir konfrontiert werden.

Die künstlerische Entwicklung von Dirk Salz führte von den frühen, an gegenständlicher Abbildung, vielfältigen Experimenten und der Erprobung technischer Fertigkeiten orientierten Anfängen über eine schrittweise Eingrenzung der Mittel und Formen zu einem Punkt äußerster Reduktion. Von dort aus baute der Künstler seine Fragestellungen und seine Formensprache in Auseinandersetzung mit grundlegenden philosophischen Überlegungen, wie er sie bei Kant, Schopenhauer u. a. diskutiert fand, und mit Positionen der neueren Kunstgeschichte wieder auf. Ausgehend von den farbtheoretischen und -praktischen Studien von Josef Albers ist hier zuerst die Konkrete Kunst zu nennen, deren Weiterentwicklung seit den 1970er-Jahren, etwa bei Imi Knoebel, eine auch für Dirk Salz nicht unwesentliche Verbindung zur Minimal Art aufweist. Entscheidende Impulse erhielt der Künstler nicht zuletzt aus seiner Beschäftigung mit dem „abstract sublime“ des amerikanischen Modernismus, insbesondere mit der großformatigen, zur dualistischen oder monochromen Farbwahl tendierenden Malerei von Mark Rothko, Barnett Newman und Ad Reinhardt. „Die natürliche Sehnsucht des Menschen, in den Künsten sein Verhältnis zum Absoluten auszudrücken“[2], der Newman nicht nur in seinen Werken, sondern auch in seinen Schriften nachgegangen ist, kann auch als Bezugspunkt für das künstlerische Interesse von Dirk Salz verstanden werden.

Entscheidende praktische Stufen für die Verdichtung seiner eigenständigen künstlerischen Sprache sind die schichtweise Verwendung von transparenten Harzen im malerischen Prozess, die Ausweitung des Bildträgers ins Objekthafte und die absichtliche Einbeziehung der Spiegelungseffekte in die Werkgestalt. Hinzu kommen subtil wirkende Details, die man zunächst nur intuitiv, auf den zweiten Blick dann bewusst wahrnimmt, wie die Tropfenverläufe an den Rändern oder die Abrundung der Ecken. Jene Arbeiten, denen wir heute gegenüberstehen, sind also die Ergebnisse eines langen und intensiven Prozesses, der neben erkenntnistheoretischen und ästhetischen Fragestellungen nicht zuletzt durch die praktischen Verfahren des Malens und eine ständige Verfeinerung der Ausdrucksmittel bestimmt ist.

Salz selbst benennt die Faszination für Gegensätze als einen wichtigen Ausgangspunkt, der sein Schaffen immer wieder beeinflusst. Zu den Gegensatzpaaren, die für das Verständnis seiner Arbeit relevant sind, zählen Regel und Zufall, Fläche und Tiefe, Materie und Geist (oder: das Reale und das Imaginäre), das Leichte und das Schwere sowie Hell und Dunkel, wobei Letztgenanntem eine zentrale Rolle in der Bildkonzeption von Salz zukommt. Das erstaunt schon deshalb nicht, weil die große Bedeutung des Lichtes in seiner Malerei sich in einem klaren Hell-Dunkel-Kontrast am besten entfalten kann. Malerisch äußert sich dieser Gegensatz fast immer im Dialog zwischen einer Nichtfarbe (Schwarz, Weiß, Grau) und einer Farbe, deren faktische Monochromie allerdings durch die Mehrschichtigkeit häufig wie abgetönt erscheint.

Wie der Stellenwert des Gegensatzes von Licht und Dunkelheit lenkt auch die außergewöhnliche Verwendung der Spiegelungen die Aufmerksamkeit auf das Sehen als Thema der Kunst von Dirk Salz. Was sehe ich? Wie funktioniert das Sehen? Und was sind die Voraussetzungen dafür? Wie verändert sich das Gesehene, wenn ich die Bedingungen meines Sehens verändere? Wenn ich etwa durch seitliche Bewegungen, Annäherung oder Entfernung meine Perspektive auf das Werk variiere? Welches Verhältnis besteht zwischen den vom Licht erhellten Farbfeldern im Inneren des Bildes und jenem lichten Innenraum meiner Erkenntnis, in dem ich über das Gesehene reflektiere? Bei der Begegnung mit dieser Malerei bin ich schnell mittendrin in einer Studie über meine visuelle Wahrnehmung. Nicht nur über ein „reines Sehen“, das als bloße „Denkoperation“ verstanden wird und „vor dem Geist ein Bild oder eine Vorstellung der Welt aufstellen würde“ (Merleau-Ponty), sondern über den ganzen vielschichtigen Vorgang, der nicht ohne die Einbeziehung des Körpers erfasst werden kann.

Im Gegensatz zu einer Intellektualisierung der Bildbetrachtung, die in der Regel vollständig blind ist für die Körperlichkeit des Betrachters und alle daraus resultierenden Fragestellungen, hat der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty die traditionelle Unterteilung der Sinne in fünf klar abtrennbare Wahrnehmungsbereiche, die „das Sehen“ seinem Gegenstand, „dem Gesehenen“, als distanziertes Objekt gegenüberstellt, in Zweifel gezogen und angemerkt, „daß sich das Sehen aus der Mitte der Dinge heraus vollzieht“[3]:

            „Mein beweglicher Leib zählt zur sichtbaren Welt, ist ein Teil von ihr, und deshalb kann ich ihn in dem Sichtbaren ausrichten. Umgekehrt jedoch hängt auch das Sehen von der Bewegung ab. Man sieht nur, was man betrachtet. Was wäre das Sehen ohne jede Bewegung der Augen? Und könnte ihre Bewegung die Dinge nicht anders als verworren wiedergeben, wenn sie selbst nur Reflexen gehorchte oder blind wäre, wenn sie über keine Vorausschau verfügte, keinen Weitblick besäße und das Sehen sich darin nicht selbst vorausginge?“[4]

Mit der körperlichen Komponente des Sehens, die vor allem aus der Ausrichtung „in dem Sichtbaren“, also durch die Bewegung des wahrnehmenden Körpers vor dem Bild, besteht, tritt eine Komplexität des visuellen Wahrnehmungsprozesses auf den Plan, der einer Malerei Rechnung trägt, die aus dem Illusionsraum der Bildfläche in den realen Umgebungsraum hinausgetreten ist, wo ihr die Körper des Malers und der Rezipient*innen begegnen. Den Schlüssel zum Verständnis dieser Komplexität sieht Merleau-Ponty in dem „Rätsel“, „daß mein Leib zugleich sehend und sichtbar ist“:

            „Er, der alle Dinge betrachtet, kann sich zugleich auch selbst betrachten und in dem, was er dann sieht, ›die andere Seite‹ seines Sehvermögens erkennen. Er sieht sich sehend, er betastet sich tastend, er ist für sich selbst sichtbar und spürbar. Es ist ein Selbst, das nicht vermittels einer Transparenz wie das Denken alles nur Erdenkliche in sich selbst aufnimmt, es als Denken konstituiert, in Denken verwandelt, sondern ein Selbst durch eine Betroffenheit, (…) eine Verknüpfung von dem, der sieht, mit dem, was er sieht, und von dem, der berührt, mit dem, was er berührt, (…) – ein ›Selbst‹ also, das zwischen die Dinge gerät, das eine Vorder- und eine Rückseite, eine Vergangenheit und eine Zukunft hat.“[5]

Merleau-Ponty betont hier ausdrücklich die Differenz zwischen Sehen und Denken. Der abstrakte, als körperlos vorstellbare Prozess des Denkens ist dem Sehen grundverschieden, das sowohl an eine sichtbare, gleichzeitig mit dem Sehen auch körperlich zu erfahrende Außenwelt, als auch an die Leiblichkeit jenes „Selbst“ gebunden ist, das sieht. Das Sehen ist mit dem Denken zwar verbunden, es wäre kein menschliches Sehen, wenn es die optischen Informationen nicht an das Denken weitergeben würde, aber es ist dabei nicht körperlos vorstellbar, bleibt also auch immer mit der taktilen Welt verknüpft, weil „jedes Sehen innerhalb des taktilen Raumes statthat“.[6]

Die Betrachtung der Werke von Dirk Salz macht uns genau diese Komplexität unserer Wahrnehmung anschaulich, indem sie unsere Position „zwischen den Dingen“ erfahrbar werden lässt. Denn während wir noch versuchen, unsere Erkenntnis über das Farbgebilde zu erweitern, das sich vor uns befindet, während wir mit unseren Blicken in das Gespinst farbigen Lichtes vordringen, als das sich uns die von Salz als „Farbverläufe“ oder „Fadings“ bezeichneten Werke darbieten (z. B. Abb. X), oder während wir uns darauf konzentrieren, die Maßverhältnisse der übereinandergeschichteten Formen seiner „Farbflächenbilder“ oder „Deep Dives“ (z. B. Abb. Y) zu bestimmen, hat die Reflexion bereits unser Abbild auf der Oberfläche des Bildes selbst zu einem neuen Gegenstand unserer Beobachtung gemacht. Zugleich mit unserer schemenhaften Erscheinung, die die Bildwahrnehmung zunächst einmal stört und verwirrt, tritt uns in den Lichteffekten der Reflexionen immer auch der Raum in den Blick, in dem wir uns selbst befinden. Indem Dirk Salz bei der Komposition der Farbflächen die Horizontale und die Vertikale betont, greift er nicht nur die Grundform der rechteckigen Bilder auf, sondern konzipiert die Bildstruktur bereits im Hinblick auf die zu erwartenden Spiegelungen, die sich als Fensterkreuze oder Raumkanten meist an die architektonischen Standards halten. Der Bildraum vor uns trifft also durch die Spiegelungen mit dem Betrachtungsraum hinter uns auf der Oberfläche zusammen. So werden wir unser im Akt der Bildbetrachtung unversehens als jene bewusst, die „zwischen die Dinge“ geraten sind.

Seine Analysen zu den leiblichen Aspekten des Sehens formulierte Merleau-Ponty 1960 am Beispiel etablierter Meister der Moderne wie Cézanne und nicht an der zeitgenössischen Kunst, obwohl dort die Bedeutung der Verbindung zwischen den Körpern der Künster*innen und ihren Werken – etwa bei den „Nouveaux Réalistes“ in Frankreich oder bei Jackson Pollock in New York – geradezu explodierte. Seine historische Ausrichtung liefert uns einen Anhaltspunkt dafür, die Ursachen der Verschiebung zum Körperlichen in der Kunst vor 1900 zu suchen: in dem mediengeschichtlichen Umbruch, den die Etablierung der Fotografie für die traditionellen Bildkünste bedeutete.

Als maßgeblich in dieser epochalen Krise der Malerei erscheint neben dem Verlust der Funktion einer Abbildung von Wirklichkeit, die von der Fotografie ungleich ökonomischer realisiert werden konnte, der drohenden Verlust der „Aura“ des Originals, den das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, also seiner massenhaften fotografischen Wiedergabe, erfährt. So hellsichtig Walter Benjamin in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1936 auch auf die Folgen einer omnipräsenten Verfügbarkeit von Bildern vorausschaut, die wir heute in der digitalisierten Bildschirmwelt in weit höherer Potenz erleben, als selbst er es zu ahnen vermochte: Künstler*innen haben immer wieder neue Wege gefunden, die unmittelbare körperliche Begegnung mit ihren Werken zur Voraussetzung einer authentischen Betrachtung zu machen und somit ein neues „auratisches Moment“ zu kreieren. Dirk Salz steht mit seiner Konzeption vom Bild, dessen Körperlichkeit das Betrachten seiner Werke zu einem komplexen sinnlichen Erlebnis macht, in dieser Tradition.

„Konkret“ sind die Werke von Dirk Salz besonders in dem Sinne, dass die unmittelbare Begegnung mit ihnen nicht ersetzt werden kann. Bei aller Finesse, mit der er sie selbst für Kataloge und Online-Präsentationen fotografiert, entziehen sie sich doch in ihrer „Ganzheitlichkeit“ der technischen Reproduzierbarkeit. Diese Aussage, die häufig nur den Charakter einer kunstwissenschaftlichen Floskel hat, kann im Fall von Dirk Salz gar nicht angezweifelt werden, denn der faktische Tiefenraum seiner Bilder und die reflektierende Oberfläche erzeugen visuelle Effekte, die wir nur durch die Bewegung vor dem Bild oder durch sich ändernden Lichteinfall erleben können. Für diese Wahrnehmungsphänomene benötigen wir die Präsenz der Werke im dreidimensionalen Raum, nein, im vierdimensionalen raumzeitlichen Kontinuum.

Bei einem Künstler, der einen derart anschaulichen Weg gefunden hat, Raum und Zeit als Bedingungen unserer Wahrnehmung erkennbar zu machen, ist es wenig verwunderlich, wenn er die Philosophie Immanuel Kants als einen seiner Ausgangspunkte bezeichnet. In der Betrachtung der Werke von Dirk Salz können wir leibhaftig erfahren, was Kant mit „Raum und Zeit als Formen reiner Anschauung a priori“ gemeint hat. Zugleich werden wir mit den Grenzen der Wahrnehmung und denen der Erkenntnis über diese Wahrnehmung konfrontiert, die der Aufklärer skeptisch formulierte und die ebenfalls ein Gegenstand der Kunst von Dirk Salz sind:

            „Wenn wir unsere Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten, so würden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen. Denn wir würden auf allen Fall doch nur unsere Art der Anschauung, d.i. unsere Sinnlichkeit vollständig erkennen, und diese immer nur unter den, dem Subjekt ursprünglich anhängenden Bedingungen, von Raum und Zeit; was die Gegenstände an sich selbst sein           mögen, würde uns durch die aufgeklärteste Erkenntnis der Erscheinung derselben, die uns allein gegeben ist, doch niemals bekannt werden.“[7]

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[1] Maurice Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, in ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003, S. 275–317 [zuerst Paris 1961], S. 278.

[2] Barnett Newman: „The sublime ist now“, zit. nach: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Band II 1940–1991, hrsg. von Charles Harrison und Paul Wood, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2003, S. 699.

[3] Maurice Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, in ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003, S. 275–317 [zuerst Paris 1961], S. 280.

[4] Ebd. S. 279.

[5] Ebd. S. 279f.

[6] Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, zit. nach Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, Wilhelm Fink Verlag, München 1999, S. 13.

[7] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993, S. 84.